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Migration verschärft Wohnungsmangel

29. Jan 2023

Jan Grade  |  empirica regio

Die Prognosen sprechen eine klare Sprache: Nach Berechnungen von empirica regio kann es bis 2024 rund 580.000 zusätzliche ukrainische Haushalte in Deutschland geben, die eine Wohnung nachfragen. Erst kürzlich stellte das Statistische Bundesamt fest, dass im H1 2022 die höchste Nettozuwanderung innerhalb eines Halbjahres nach Deutschland seit der Wiedervereinigung zu verzeichnen war. Etwa 1,05 Mio. Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit sind in diesem Zeitraum im Saldo nach Deutschland gekommen.

Der Hauptgrund für die Zuwanderung: der Krieg in der Ukraine. Während Ende 2021 noch rund 150.000 Ukrainer registriert waren, lebten im September 2022 laut Ausländerzentralregister bereits etwa 1,1 Mio. Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. Sehr kurzfristig hat der Krieg in der Ukraine also zu einem sprunghaften Anstieg der in Deutschland lebenden Bevölkerung geführt. Unsere Prognose unter der Annahme, dass in diesem Winter noch viele Menschen die Ukraine verlassen werden: Bis Ende 2023 könnte die Bevölkerung im Vergleich zu den Prognose-Szenarien um zusätzlich 1,5 Mio. zunehmen.

Die Nachfrage an Wohnraum steigt also deutlich. Das Problem: Der Wohnungsbau hängt der Nachfrage – ganz zu schweigen von den selbst gesteckten Zielen der Politik – in Regionen mit knappem Wohnungsangebot schon heute meilenweit hinterher. 2021 konnten nur 293.393 Wohneinheiten neu gebaut werden. Alles deutet darauf hin, dass es einen weiteren dramatischen Einbruch beim Neubau geben wird.

Vor allem Kommunen werden die Veränderungen spüren
Lässt man den Krieg außen vor, dann zeigen die vorläufigen Zahlen der neuen empirica-Wohnungsmarktprognose eine Nachfrage von 195.000 bis 220.000 neuen Wohnungen jährlich für 2023 und 2024. Zählt man 1,5 Mio. Geflüchtete aus der Ukraine hinzu, ergibt sich eine zusätzliche Nachfrage von 580.000 Wohneinheiten über den Zeitraum 2022 bis 2024. Davon sind einige Haushalte bereits fündig geworden und leben in einer eigenen Wohnung. Die übrigen ukrainischen Haushalte werden vor allem im Bestand suchen und stoßen dort in angespannten Wohnungsmarktregionen auf ein geringes Angebot. Das wird bei allen Haushalten mit Umzugsabsichten weiterhin zu Ausweichbewegungen in andere Regionen führen, zum Beispiel in das jeweilige Umland.

Vor allem die Kommunen werden die Veränderungen spüren, wobei empirica regio eine gleichmäßige Verteilung der Ukrainerinnen und Ukrainer über die Regionen hinweg festgestellt hat. Darauf deuten die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit hin. Während Ende 2021 der Anteil der Ukrainerinnen und Ukrainer in den ostdeutschen Bundesländern einschließlich Berlin höher als in anderen Teilen des Landes war, hat sich die Verteilung mittlerweile der Bevölkerungsverteilung angeglichen. Trotzdem gibt es offenbar Städte und Kommunen, in denen relativ zur Bevölkerung bisher besonders viele ukrainische Staatsbürger gemeldet sind. Zu nennen wären hier beispielsweise Baden-Baden, Hof, Schwerin, Gera, Chemnitz, Bremerhaven und Halle (Saale), wo die Bevölkerungszahl bis Ende 2023 allein durch den Zuzug der Geflüchteten zwischen 3,5 % und 4,5 % höher liegen wird als vor dem Krieg. Weiterer Fakt: Viele ukrainische Haushalte leben derzeit noch nicht in einer eigenen Wohnung.

empirica regio nimmt für die Prognose an, dass von 2024 an Ukrainerinnen und Ukrainer mehrheitlich im Saldo wieder zurückkehren werden, sodass ihre Gesamtzahl in Deutschland langsam abnehmen wird – das natürlich nur unter dem strengen Vorbehalt, dass der Krieg im Laufe des kommenden Jahres abebbt und es zu keinen weiteren verheerenden Zerstörungen kommt. Den Peak der Fluchtmigration aus der Ukraine werden wir unseren Berechnungen zufolge im Lauf des Jahres 2023 sehen mit etwa 1,7 Mio. ukrainischen Staatsangehörigen in Deutschland. Ob sie bleiben, weiterziehen oder nach dem Krieg in ihr Heimatland zurückkehren werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersehbar.

Neubau wird kurz- und mittelfristig keine Abhilfe schaffen
Ausschlaggebend für den Wohnungsmarkt wird sein, wie lange die Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland bleiben und wie schnell sie auf die Suche nach einer eigenen Wohnung gehen, wenn sie derzeit noch temporär wohnen. Eine Umfrage der Institute IAB, BiB und DIW sowie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zeigt, dass im Herbst bereits 74 % der Geflüchteten in privaten Wohnungen untergekommen waren und davon 60 % bereits in einer eigenen Wohnung und nicht bei anderen lebten. Demnach waren 44 % der Geflüchteten im Herbst 2022 bereits am Wohnungsmarkt untergekommen. Von den Geflüchteten möchten 37 % mindestens für mehrere Jahre in Deutschland bleiben und 34 % bis zum Kriegsende. Das wird vor allem für die Wohnungsmarktregionen mit knappem Angebot ein Problem.

Mit Blick auf die ohnehin schon angespannten Wohnungsmärkte in den Kernstädten, den Einbruch im Baugewerbe und die dadurch sinkende Zahl an Baufertigstellungen wird Neubau kurz- und mittelfristig keine Abhilfe schaffen. Es muss also eine andere Lösung gefunden werden. Wohnungsangebote und offene Arbeitsstellen sind in Deutschland insgesamt ausreichend vorhanden. Helfen könnte eine gezielte Unterstützung bei der Suche nach Arbeitsstellen kombiniert mit Betreuungsangeboten für Kinder sowie Informationen über verfügbaren Wohnraum, vor allem abseits der Metropolen.

Dieser Artikel erschien am 27.1. in der FAZ.

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