Wer bauen will, muss bescheidener werden
8. Mrz 2024
8. Mrz 2024
Der Neubau in Deutschland steckt in einer Krise. Statt neue Wohnungen oder Häuser zu bauen, konzentrieren sich viele Unternehmen vermehrt auf den Umbau bestehender Gebäude. Dieser Wandel ist nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern spiegelt auch den veränderten Lebensstil der Menschen wider: Leer stehende Büros lassen sich beispielsweise häufig in Wohnungen umwandeln. Dennoch wird es auch in Zukunft notwendig sein, neue Immobilien zu bauen, allerdings werden diese anders aussehen als bisher. Die Architektur der kommenden Jahre wird von Bescheidenheit geprägt sein.
Damit verabschieden wir uns vom Zeitgeist der 2010er-Jahre, in dem es hieß: größer, höher, ausgefallener. Stattdessen geht es im Neubau darum, das richtige Maß zu erkennen und umzusetzen. Angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen wie der Zinswende und der explodierenden Baupreise sollten wir mit begrenzten Mitteln den größtmöglichen Nutzen für alle schaffen. Wir müssen nicht nur mehr Nachhaltigkeit realisieren, sondern auch Immobilien so bauen, dass sie die individuellen Bedürfnisse der Menschen nach unterschiedlichen Wohn-, Arbeits- oder Shoppingwelten unter einem Dach vereinen.
Nachhaltigkeit und Ressourcenverbrauch in Einklang mit den Bedürfnissen der Menschen zu bringen, ist jedoch nicht immer einfach. Die Pro-Kopf-Wohnfläche in Deutschland liegt beispielsweise bei 48 Quadratmetern. Das liegt einerseits an der wachsenden Zahl an Single-Haushalten, aber auch daran, dass wir zu großzügig gebaut haben. Das könnte sich nun drastisch ändern: Das Bundesinstitut für Bau, Stadt- und Raumforschung sieht eine Verkleinerung der Pro-Kopf-Wohnfläche erst ab unter 35 Quadratmetern als ökologisch ausreichend an.
Die kleinere Mietfläche hätte den Vorteil, dass sich die Gesamtmietbelastung in Grenzen hält. Zudem könnten im gleichen Baukörpervolumen mehr Wohneinheiten geschaffen werden, was angesichts der extremen Wohnungsnot in vielen Städten wichtig wäre. Für die Erstellungskosten hieße dies: Bei überschlägig angenommenen Baukosten in Höhe von 4.000 Euro pro Quadratmeter würden für 48 Quadratmeter bislang 192.000 Euro anfallen. Obwohl sich die Kosten aufgrund der zusätzlichen Wände und gleichbleibend großen Nasszellen nicht linear herunterrechnen lassen, können dennoch mehrere Zehntausend Euro pro Wohneinheit gespart werden. In Basel beispielsweise gibt es seit 2023 den LeNa-Wohnkomplex (Lebenswerte Nachbarschaft) für 180 Menschen – mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Fläche von nur 32 Quadratmetern. Freie Wohnungen gibt es dort keine einzige. Nur eine Warteliste.
Weglassen, was nicht gebraucht wird
Um die Lebensqualität bei einem kleineren individuellen Wohnraum zu erhalten, können mehr ergänzende Gemeinschaftsflächen geschaffen werden. Gemeinschaftsterrassen und Coworking-Bereiche anstelle eines eigenen Arbeitszimmers entsprechen dem wachsenden Trend der Sharing Economy. Im genannten LeNa-Projekt beispielsweise gibt es vier Gästezimmer (außerhalb der Wohnungen), die geteilt werden, also allen Besuchern offenstehen. Die Bäder sind klein gehalten; zum Ausgleich gibt es einen Raum mit zwei Badewannen, der entsprechend zwei Personen gleichzeitig zur Entspannung dienen kann. Ebenso kann in den Wohnungen auf eine Waschmaschine verzichtet werden, da es im Haus einen Waschsalon für alle gibt. Manche gemeinschaftlich nutzbaren Räume sind darüber hinaus bewusst nicht gelabelt – die Bewohner können sie nach eigenen Vorstellungen mit Leben füllen. Dies hat den positiven Effekt, dass die Gemeinschaft gestärkt wird und der Vereinsamung der Menschen entgegengewirkt wird.
Nicht nur in der Größe, auch beim Einsatz von Technik sollten Bauherren und Planer zurückhaltender werden. Statt ultrasmarter Hightech-Immobilien mit energie- und wartungsintensiver Infrastruktur sollten minimalisierte Konzepte zum Einsatz kommen. Dabei sollte mehr Raum für passive Maßnahmen wie natürliche Belüftung und Begrünung geschaffen werden. Weniger Technik bedeutet jedoch nicht weniger Fortschritt: Der Bauprozess selbst sollte so digital und modern wie möglich gestaltet werden, um Bauzeiten und Baumaterialien zu reduzieren.
Seriell bauen spart wertvolle Zeit
Ein weiterer Aspekt ist die Nutzung des seriellen Bauens mit industriell vorgefertigten Elementen. Zehn bis 15 Prozent der Baukosten lassen sich je nach Schätzung einsparen, die reine Bauzeit je nach Projekt halbieren oder sogar dritteln. Mancher Marktteilnehmer sieht je nach Projekt sogar noch viel mehr Zeitersparnis – man zählt bisweilen in Wochen statt in Jahren. Das ist alles kein neues Thema: Nur lag der Marktanteil des seriellen Bauens im Mehrfamilienhaussegment dem Zentralen Immobilien Ausschuss (ZIA) zufolge nie über fünf Prozent.
Möglicherweise steht nun jedoch endlich die lang erhoffte Neubau-Revolution tatsächlich bevor: Laut ZIA wurden jüngst Investitionen in industrielle Fertigungsanlagen mit Kapazitäten von bis zu 20.000 Wohnungen pro Jahr getätigt – das sind völlig neue Dimensionen. Wichtig ist aus unserer Sicht allerdings: Die generelle Bescheidenheit muss umso früher in den architektonischen Überlegungen berücksichtigt werden. Es muss sich daraus umso mehr die richtige Funktion und Form ableiten. Dann können wir (auch seriell!) eine neue Ästhetik erleben. Ein Gestaltungsprinzip im Sinne einer Kunst des Weglassens.
Schlichte, aber berührende Architektur
Wer nun denkt, dass dies alles nur graue Architektentheorie sei, sollte auf vergangene Krisen am Immobilienmarkt zurückblicken. In den 1950er-Jahren ging es beispielsweise um den raschen Wiederaufbau mit begrenzten Mitteln. Dennoch wurde ein Stil entwickelt, der geschickt Elemente der skandinavischen und schweizerischen Architektur aufgriff, ohne sie zu kopieren. Ein Stil, der oft durch leichte Konstruktion und zurückhaltende Eleganz geprägt war, durch Transparenz mit großzügigen Fensterflächen. Es handelt sich um schlichte, aber doch berührende Architektur, spätestens auf den zweiten Blick, wie mancher Experte sagt. Andere betonen, dass gerade in der Knappheit der 1950er-Jahre so frei mit den (wenigen) neuen Materialien experimentiert wurde wie sonst nie.
Wer nach gelungenen Beispielen sucht, kann die zeitlose Architektur in Hannover oder Kassel besichtigen. Besonders empfehlenswert ist das AOK-Gebäude am Kasseler Friedrichsplatz. Es handelt sich um einen Stahlbetonskelettbau, der sich über die Ecke erstreckt und eine Rasterfassade aufweist, die typisch für die 1950er-Jahre ist. Das Stahlbetonskelett ist trotz der Natursteinelemente sichtbar und erfüllt sowohl ästhetische als auch strukturelle Funktionen. Die Funktionen der Gebäudeabschnitte lassen sich größtenteils an der Fassade ablesen, zum Beispiel beim bemerkenswerten Eckbauteil, das aus der Fassade hervorragt und durch seine großen Fenster Einblick in das elegante Treppenhaus gewährt.
In den 1960er-Jahren begannen einige Städte, Gebäude in überdimensionierten Maßstäben zu errichten, ohne Rücksicht auf ihre Umgebung. Warum war das so? Der Wohnungsmangel und der Materialmangel waren überwunden, man konnte auf einem neuen Level experimentieren. Somit war die damalige Zeit der Bescheidenheit recht schnell wieder vorbei.
Damit meine ich nicht, dass wir nun genauso wie vor 70 Jahren bauen sollten. Aber wir sollten die Erkenntnisse der Vergangenheit nutzen, um eine zukünftige Architektur der stilvollen Bescheidenheit zu schaffen. Wenn wir mutig mit den begrenzten Mitteln experimentieren und dies mit den kreislauffähigen Materialien der Zukunft auf ungewöhnliche Weise verknüpfen, können wir ein neues Kapitel der Baukultur aufschlagen.
Dieser Artikel erschien am 06.03.2024 auf der Website der Wirtschaftswoche.
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