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Biodiversität: Kapital langfristig schützen

1. Sep 2023

Jürgen Utz  |  List AG

Wer dauerhaft werthaltige Immobilien schaffen und erhalten will, kommt am Thema Biodiversität nicht mehr vorbei. Ein Kommentar von ESG-Experte Jürgen Utz, Leiter Nachhaltigkeit bei der LIST AG.

Unterschätzte Gefahr: Nach Klimawandel und mangelnder Klimaanpassung benennt das World Economic Forum in seinem „The Global Risks Report 2023“ den Verlust der Biodiversität als viertgrößtes Risiko für die Weltwirtschaft über die nächsten zehn Jahre. Direkt nach (1) Scheitern von Klimaschutz, (2) Scheitern bei der Klimaanpassung und (3) Extremwetter und Naturkatastrophen als Folgen. Der Klimawandel und der Verlust an Biodiversität sind aufs Engste miteinander verbunden, denn intakte Ökosysteme stabilisieren das Klima – ein zu schneller Wandel setzt aber viele Tier- und Pflanzenarten zunehmend unter Druck.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Rückgang der biologischen Vielfalt dramatisch beschleunigt, was hauptsächlich auf Aktivitäten des Menschen zurückzuführen ist. Dem WWF zufolge sind ein Viertel der Säugetierarten, jede achte Vogelart und 40 Prozent der Amphibienarten bedroht. Viele Tier- und Pflanzenarten drohen unwiederbringlich von der Erde zu verschwinden, komplette Ökosysteme stehen vor riesigen Umwälzungen.

Mit dem Verlust der Biodiversität drohen zentrale Vorgänge innerhalb unserer Ökosysteme verloren zu gehen, die für den Erhalt unser aller Lebensgrundlagen wesentlich sind. Die Folge sind dramatische Veränderungen, beispielsweise hinsichtlich der CO2-Speicherung, Wasser- und Luftfilterung, Bestäubung durch Insekten und auch der privaten Erholung jedes Einzelnen in der Natur.

Um die biologische Vielfalt (Biodiversität) zu erhalten, muss der Lebensraumverlust infolge von Klimawandel, fehlenden Schutzmaßnahmen, industrieller Landwirtschaft, Schadstoffeintrag, Ausbeutung von Ressourcen und ungesteuerter Flächenversiegelung durch Baumaßnahmen aufgehalten werden. Es geht somit wie beim Klimaschutz darum, dass jedes einzelne Unternehmen, jede Branche ihren Beitrag leistet. Auch die Bau- und Immobilienwirtschaft ist jetzt gefragt und hat auf fast alle Treiber des Biodiversitätsverlusts direkt oder indirekt Einfluss.

Bestandsanalysen und Artenschutzgutachten vor Baubeginn
Zu Beginn eines jeden Bauvorhabens sollte daher die Frage stehen: Können wir uns diese Immobilie ökologisch leisten und – wenn ja – was für Anforderungen muss sie erfüllen? Egal wo gebaut wird, sollten dann Bestandsanalysen und Artenschutzgutachten für Flora und Fauna die Grundlage für die weiteren Schritte bilden. Baumaßnahmen sollten von vornherein so geplant werden, dass in der Bauphase möglichst wenig Flächen genutzt werden und die schlussendliche Flächenversiegelung möglichst gering gehalten wird. Wo Neuentwicklung stattfindet, sollten wir echte Habitate entwickeln, sowie im Bestand die Chance zur Erweiterung und Vernetzung bestehender Biotopstrukturen nutzen. Zu den konkreten Maßnahmen gehören beispielsweise:

  • Berücksichtigung lokaler Biotopstrukturen
  • Entwicklung eines übergeordneten Konzepts, welches Fauna und Flora auf dem Grundstück sowie am Gebäude berücksichtigt
  • Anforderungen ausgewählter Spezies einbeziehen in Form von Verweil-, Schutz-, Paarungs- und Nisträumen
  • Sicherung eines ganzjährigen Nahrungsangebots durch eine passende Pflanzenwahl
  • Neophyten vermeiden, stattdessen ausschließlich heimische Arten
  • Vogelschlag vermeiden
  • Einsatz torffreier Materialien
  • Nachhaltige Pflegekonzepte etablieren
  • Vermeidung von Werkstoffen mit Bioziden, besonders im Außenbereich
  • Beleuchtung in Spektrum, Ausrichtung und Leuchtdauer anpassen
  • Wasserinfrastruktur passend mitentwickeln
  • Zugang für Nutzer und interessierte Öffentlichkeit ermöglichen

Dabei ist es natürlich essenziell, besonders eine Ressource ausreichend zu berücksichtigen: das Wasser. Das Grundwasser gezielt zu schützen, Regenwasser in die Böden einsickern zu lassen, wo möglich Grauwasser zu nutzen und den gesamten Wasserverbrauch zu reduzieren ist unabdingbar, um die umfassenden Konzepte zum Schutze der Biodiversität umsetzen zu können und einen gesunden Lebensraum für Flora und Fauna sicherzustellen.

Nachhaltigkeitsexperten von Beginn an einschalten
Für den Neubau bewertet die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e. V. (DGNB) im aktuellen DGNB System Version 2023 sechs Kriterien der ökologischen Qualität, darunter auch die Biodiversität am Standort (EVN2.4) und Trinkwasserbedarf und Abwasseraufkommen (EVN2.2). Diese Kriterien bieten bereits gute Orientierungspunkte für die anschließende Ausarbeitung der weiteren Konzepte.

Beim Neubau sollten diese beiden DGNB-Kriterien bei jeder Nachhaltigkeitsstrategie mit ambitionierten Zielen als gesetzt gelten, wodurch sie bereits ab der Planungsphase integriert und an die individuellen lokalen Standortbedingungen und Gegebenheiten angepasst werden. Dazu sollten Experten eingebunden werden, um mit Gebäude und Umfeld für heimische Arten geeignete Lebensräume zu schaffen und durch korrekte Pflege zu erhalten. Andernfalls können Fehler entstehen, von der Verdrängung bereits angesiedelter Arten bis hin zur Verbreitung von Neophyten.

Mit einem auf die lokalen Möglichkeiten abgestimmten Konzept werden, neben der höheren Biodiversität, viele positive Effekte erreicht, darunter ein besseres Mikroklima und damit Aufenthaltsqualität, verringerte Kühl- und Heizlasten, ein effizienteres Regenwassermanagement, das auch bei Starkregen schützt, geringere Abwassergebühren und es besteht der Zugang zu Fördermitteln. Auch im Bestand sind viele Maßnahmen möglich, zuweilen eben mit kleinen Modifikationen.

Was dabei nicht vergessen werden darf: Eine perfekte Ausgestaltung einer Neuentwicklung oder Sanierung unter den Anforderungen der Biodiversität kann lokal von großem Nutzen sein. Aber global trotzdem einen Verlust an Biodiversität herbeiführen, weil die Gewinnung der Rohstoffe, Herstellung der Materialien, die CO2e-Emissionen von Bau und Betrieb sowie weitere Treiber eben genauso zu betrachten sind. Diese indirekten Effekte sind nicht zu vernachlässigen. Die Lieferketten, THG-Emissionen, Schadstoffe und Zirkularität liegen nicht außerhalb der Betrachtungsgrenze.

Berichtspflicht hinsichtlich der Biodiversität
Biodiversitätsziele werden nun auch ausdrücklich in einschlägigen Verordnungen und Richtlinien verankert. In der EU-Taxonomie ist es ein eigenständiges Umweltziel und muss im Bau- und Immobiliensektor als DNSH-Regel, also dem Nachweis keiner negativen Beeinträchtigung infolge der wirtschaftlichen Aktivität, schon von Anfang an berücksichtigt werden. Als Schutzziel, zu dem man einen wesentlichen Beitrag leistet, ist Biodiversität für unseren Sektor laut den aktuellen EU-Veröffentlichungen nicht anwendbar. Darüber hinaus muss dieser Aspekt aber auch im Rahmen der EU Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) in Verbindung mit den European Sustainability Reporting Standards (ESRS) von Unternehmen in ihrer Nachhaltigkeitsberichterstattung berücksichtigt werden. Normativ sind also die Leitplanken gesetzt. Spätestens damit ist Biodiversität nicht mehr nur für die öffentliche Wirkung, sondern auch zunehmend für die Immobilienbewertung und die ESG-Due-Diligence im Rahmen einer Transaktion von Bedeutung. Wer dauerhaft werthaltige Immobilien schaffen und erhalten will, kommt an Biodiversität nicht mehr vorbei.

Noch wirft dieses Thema in der Immobilienwirtschaft viele Fragezeichen auf. Weil es aber wichtig ist und wir keine Zeit verlieren wollen, muss die Immobilienbranche vorangehen. Jetzt kommt es auf den konstruktiven Dialog zwischen Branchenexpert:innen, Biolog:innen und Naturschützer:innen an, um Erkenntnisse auszutauschen und sich miteinander zu vernetzen. Um Aufklärung zu leisten, das Thema Biodiversität in seiner Bandbreite auf möglichst viele Schultern zu verteilen und so den sicheren Boden für unsere gemeinsame Zukunft zu bewahren.

Dieser Artikel erschien online am 30.08.2023 online auf immobilienmanager.de.

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