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Neue Chancen für den Städtebau

29. Jul 2022

Prof. Dr. Alexander von Erdély FRICS  |  CBRE

Zinswende – dieses Schlagwort beherrscht die aktuellen Debatten der Immobilienwirtschaft wie kaum ein anderes. Tatsächlich jedoch bestehen die Risiken nicht direkt in den gestiegenen Finanzierungszinsen. Schließlich bewegen sich diese aktuell unterhalb des Niveaus der zwei Dekaden vor 2015, also Jahrzehnte, in denen unzählige erfolgreiche Projekte realisiert wurden.

Die Unsicherheit besteht vielmehr darin, dass Käufer und Verkäufer nun ein neues Preisniveau ermitteln müssen, unter der zusätzlichen Berücksichtigung von Baukostenentwicklung, Inflation und gestiegenen Anforderungen bezüglich der Nachhaltigkeit. Dieser Prozess ist äußerst kompliziert. Dementsprechend werden aktuell oft nur noch Projekte fertiggestellt, die sich bereits im Bau befinden oder vorvermietet sind. Andere dringend benötigte Wohnungs- oder Büroneubauten, die für neue, zeitgemäße Lebenswelten in unseren Städten sorgen könnten, laufen Gefahr, erst einmal auf unbestimmte Zeit verzögert zu werden.

Damit existiert jedoch eine hintergründige Gefahr für die Gesellschaft: Die Pariser Klimaziele und die ausgewogene Sozialstruktur unserer Städte drohen bei den vielen akuten Herausforderungen in den Hintergrund zu treten. Obwohl sich spätestens jetzt schonungslos zeigt, wie nachteilig eine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wirklich ist, erlahmt nun die Bau- und Modernisierungstätigkeit, anstatt massiv zuzunehmen.

Qualität setzt sich wieder stärker durch
Gegenüber dieser Umwelt- und Energiethematik wirken städtebauliche Leitbilder und die sozialen Strukturen einer Stadt nochmals deutlich abstrakter: Wieso sollten wir uns über die Stadt der Zukunft Gedanken machen, wenn wir nicht einmal wissen, wie die Projekte in der Gegenwart bei Lieferengpässen und Baukostensteigerungen frist- und kostengerecht realisiert werden können?

Dennoch entscheidet sich heute, ob unsere Städte in zehn oder fünfzehn Jahren lebenswert, integrativ und architektonisch anspruchsvoll sind – oder ob wir wieder dazu übergehen, einen Wohn- oder Bürokomplex neben den anderen zu setzen, schlimmstenfalls auch noch in der immer gleichen Optik, weil die Umsetzung preisgünstig ist.

Gerade in der aktuellen Situation entsteht jedoch auch eine große Chance für unsere Städte. Denn wenn die immobilienwirtschaftliche Entwicklung von einem reinen Verkäufermarkt zu einem mehr ausgeglichenen Markt umschlägt, bedeutet das auch, dass sich Qualität wieder stärker durchsetzt. Es ist schlichtweg nicht mehr so, dass aufgrund des hohen Anlagedrucks und der überbordenden Liquidität sämtliche Projekte angekauft werden, die zu halbwegs annehmbaren Konditionen auf den Markt gelangen.

Mehr Spielraum für zusätzliche Investments
Stattdessen werden wir in den kommenden Monaten und Jahren eine Rückkehr zur Normalität erleben, die aus städtebaulicher Sicht nur „gesund“ sein kann – denn damit verbunden entsteht für alle Beteiligten der Druck, deutlich bedarfsorientierter zu bauen als vorher, also mit Blick auf all diejenigen, die in den späteren Immobilien leben, arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Denn nur dadurch entsteht auch ein langfristig intakter Business-Case für die Investoren. Höhere Renditeniveaus in Verbindung mit langfristigen Haltedauern wiederum sorgen auch dafür, dass mehr Spielraum für zusätzliche Investments in Sachen Nachhaltigkeit und Qualität zur Verfügung steht.

Insgesamt ist die Frage nach der Zinswende eher eine Fußnote, wenn es darum geht, wie wir den Weg zur Stadt der Zukunft beschreiten. Wenn in einigen Jahrzehnten die (städtebauliche) Architektur unserer Zeit bewertet wird, ist es völlig unerheblich, wie hoch die Leitzinsen oder die Nettoanfangsrenditen „damals“ waren. Ganz anders jedoch verhält es sich mit der städtebaulichen und architektonischen Qualität, den damit verbundenen sozialen Strukturen und auch den Klimabilanzen.

Bessere Ausgangssituation
Denn dass selbst in wirtschaftlich sehr schwierigen Zeiten außerordentlich hochwertige Architektur verwirklicht werden kann, zeigen viele der Häuser, die zwischen 1920 und 1935, also in Zeiten von Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise, errichtet wurden. Jetzt stehen diese gesuchten Altbauten oftmals in den begehrtesten Vierteln unserer Städte.

Eine Rückbesinnung auf Qualität und Innovation kann also viel Gutes bewirken. Vielleicht ist deshalb – gesellschaftlich gesehen – die Ausgangssituation für langfristig hervorragende Immobilienprojekte aktuell sogar besser als noch vor ein paar Monaten.

Dieser Artikel erschien am 29.7. in der FAZ.

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