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ESG muss nerven!

22. Mai 2022

Isabella Chacón Troidl  |  BNP Paribas REIM

In einer Zeitungsmeldung klagte jüngst ein Großteil der befragten Immobilienunternehmen über die ESG-Regulierungsstandards, Überschrift: „ESG-Regulierung nervt“. Der Regulator bleibe zu unkonkret, hieß es, es fehle Rechtssicherheit, es wurden der höhere Verwaltungsaufwand und höhere Kosten angeprangert.

Das ist auch durchaus verständlich, immerhin stehen die Immobilienbranche und insbesondere Fondsanbieter an verschiedenen anderen Fronten gerade ebenfalls unter Druck: niedrige Renditen, Baukostenexplosion, Fachkräftemangel – und nun auch noch steigende Zinsen, die Fremdkapital verteuern und Kapital weg vom Immobilienmarkt lenken könnten. Schärfere ESG-Regularien noch obendrauf kann man da nicht auch noch brauchen, ist mancherorts die Stimmung. Doch gerade deshalb ist es jetzt wichtig zu nerven.

Kenner der ‚Feuerzangenbowle‘ wissen: Mit der Schule ist es wie mit der Medizin. Sie muss bitter schmecken, sonst „nötzt“ sie nichts. Keine Frage, ESG bringt neue Anforderungen und Aufgaben, Mehrbelastungen und Kostenfaktoren. Man sollte das jedoch nicht als Grund zur Klage verstehen. Ich persönlich finde sowieso diejenigen Medikamente viel nervender, die womöglich besser schmecken, aber wirkungslos sind. Übertragen auf die ESG-Standards heißt das: Wer es sich leicht macht und eine „Abhak“-Mentalität besitzt, die einfach nur das von außen vorgegebene Mindestmaß erfüllen will, hat eigentlich am wenigsten Grund zu klagen – tut dies aber oftmals am lautesten.

Wer sich hingegen aus hoher intrinsischer Motivation heraus mit dem Thema befasst, der investiert in der Regel sehr viel mehr Mühe, Zeit und Geld. Energetische Vollsanierungen, nachhaltige Mobilitätskonzepte oder innovative Ansätze für echte Ressourcen-Einsparungen sind in jeder Hinsicht aufwendiger, als nur die ESG-Bilanz durch oberflächliche Mindestmaßnahmen wie den Bezug von grünem Strom oder die Installation von ein paar Fahrradständern aufzuwerten. Die intrinsisch Motivierten sind aber selten genervt von diesen Anstrengungen, im Gegenteil: Sie sind animiert von den Ergebnissen ihres Schaffens.

ESG muss sogar nerven, und zwar vor allem dort, wo es noch immer als Störfaktor wahrgenommen wird. Wo es aus Bequemlichkeit ohne diesen Druck von außen keine ausreichenden Anstrengungen zur Umsetzung gäbe. So gesehen kann der „Nerv-Faktor“ auch als Kontraindikator betrachtet werden: Je lauter die Klage über die bittere Medizin, desto kranker womöglich der Patient.

Dieser Artikel erschien am 19.5. in der IMMOBILIEN ZEITUNG.

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