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Corona-Krise in der Pflege

19. Apr 2020

Jens Nagel  |  Hemsö

Covid-19 hat die deutsche Gesundheitsinfrastruktur innerhalb weniger Wochen in den Alarmzustand versetzt. In Krankenhäusern entstehen in Windeseile zusätzliche medizinische Kapazitäten – und wie etwa in Berlin sogar auf Messegeländen. Regierung und Behörden ziehen Kompetenzen an sich, um für eine zentrale Beschaffung des überall dringend benötigten Schutzmaterials zu sorgen. Doch in Deutschlands Pflegeheimen scheint das Ende der Möglichkeiten erreicht: Mit Bayern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt verkündeten drei Bundesländer bereits einen Aufnahmestopp für alle Altenpflegeeinrichtungen, das Deutsche Rote Kreuz warnte bereits eindringlich vor einer Versorgungskrise. Anstatt Infizierte zu isolieren, wurden ganze Einrichtungen unter Quarantäne gestellt und sogar geräumt.

Das Virus Sars-CoV-2 führt der breiten Öffentlichkeit vor Augen, was Insider schon seit Jahren wissen: Das Pflegesystem in Deutschland ist alles andere als krisensicher. Natürlich werden die meisten Verantwortlichen darauf verweisen, dass man eine Epidemie dieses Ausmaßes nicht habe kommen sehen. Aber hätte man nicht wenigstens vorbereitet sein können? Wäre es nicht angebracht gewesen, ein solches Szenario zumindest durchzuspielen – und wie bei allen anderen kritischen Infrastrukturen, wie bei Krankenhäusern, bei der Polizei, bei Wasser- und Stromversorgung, Notfallpläne zu entwickeln? Immerhin waren 2017 mehr als 800.000 Pflegebedürftige vollstationär untergebracht – es geht also objektiv um eine der größten Risikogruppen des Landes.

Der Bedarf ergibt sich nicht aus der Kostenfrage
Die jüngste Zuspitzung zeigt somit umso deutlicher, dass unterschiedlichste Perspektiven berücksichtigt werden müssen, um die Menschen auch in Ausnahmesituationen zu schützen und angemessen zu versorgen. Denn die Corona-Krise verschärft den Mangel an Personal, Räumlichkeiten und Material zwar, wirklich überraschend kommt er aber nicht. Dass die Kapazitäten im deutschen Pflegesystem – und zum Teil auch die Qualität – unzureichend sind, ist seit Jahren klar. Nicht umsonst diskutiert die Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen über die Gewinnung ausländischer Fach- und Hilfskräfte, kündigt die Politik in regelmäßigen Abständen „Pflegeoffensiven“ und ähnliches an, wurde der sogenannte Pflege-TÜV eingeführt, um eine zentralisierte Qualitätsprüfung für Verbraucher und Betreiber zu etablieren.

Hinsichtlich der Erfolge und Konsequenzen all dieser Maßnahmen ist eine schonungslose Analyse jedoch selten. Was bedeutet ein Aufnahmestopp wie aktuell in Bayern und Niedersachsen zum Beispiel für diejenigen, die nicht mit dem Virus infiziert sind, aber dringend stationärer Pflege bedürften? Man muss sich dazu die Realität vieler Älterer vor Augen führen: Sehr oft geht einer Aufnahme kein längerer Entscheidungsprozess voraus, sondern ein akuter Notfall. In vielen Fällen entsteht der Bedarf einer stationären Aufnahme also nicht kontinuierlich, sondern plötzlich. Was ist etwa mit Pflegebedürftigen, die von ihrem Partner gepflegt werden, wenn dieser einen Unfall hatte und selbst im Krankenhaus liegt? Normalerweise kämen sie für eine entsprechende Zeit zumindest in Kurzzeitpflege. Doch diese Lösung kann nun ausfallen – woran sich zeigt, dass eine einseitige Betrachtung des Bedarfs zu dramatischen Folgen führen kann.

Die Unterversorgung schadet den Bewohnern
Um es klar zu sagen: Unter den gegebenen Umständen ist der Aufnahmestopp die einzige sinnvolle Maßnahme. Wer eine offene Diskussion anstrebt, sollte sich jedoch die Frage stellen, ob es mit einer vorausschauenden Planung nicht hätte gelingen können, den Notstand zu verhindern. Im Normalfall einer Infektion wäre der Ablauf klar: Der oder die Erkrankte würde in der Einrichtung räumlich und sozial isoliert, um andere Bewohner und das Betreuungspersonal zu schützen. Dass dies aktuell nicht gelingen kann, liegt nicht – wie mancher argumentieren wird – in der Natur der Sache. Es ist ausschließlich in Engpässen begründet, die das Coronavirus nicht erzeugt, sondern nur offenlegt. Die entscheidenden Fehler sind also in der Vergangenheit zu suchen, in der Zeit und Ressourcen für eine wirksame Verbesserung der Gesamtsituation zur Verfügung standen. Doch stattdessen wird nun eilig etwa der Personalschlüssel verändert oder die Pflicht zum Reporting gelockert, um flexibler auf Kapazitätsprobleme reagieren zu können.

An dieser Stelle drängt sich eine ganz grundsätzliche Frage auf: Sollte das Pflegesystem wirklich in erster Linie an Zielen wie Kosteneffizienz orientiert sein? Oder nicht doch lieber an der gesellschaftlichen Aufgabe, eine möglichst gute Versorgung der Schwächsten sicherzustellen? Denn genauso klar wie die Tatsache, dass die Ursachen aktueller Probleme weiter in der Vergangenheit liegen, ist auch: Unter einer Unterversorgung leiden vor allem die Bewohner. Die zentralste Lehre aus der Krise muss deshalb ein Umdenken sein. Das schließt auch Überkapazitäten im ökonomisch vertretbaren Umfang ein. Denn sie wären eine Voraussetzung dafür, zuverlässig zusätzliche Menschen aufnehmen zu können – und im Falle einer Epidemie gleichzeitig die bisherigen Bewohner wirksam vor einer Ansteckung zu bewahren.

Statt starker Worte brauchen wir starke Strukturen
Wenn die akute Phase überwunden ist, können wir deshalb nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wie in vielen anderen Bereichen muss es meines Erachtens gerade in der Pflege darum gehen, die richtigen Schlüsse aus dem Corona-Infektionsgeschehen zu ziehen. Tabuthemen verbieten sich dabei von selbst: Mitarbeiter haben schon mehrfach festgestellt, dass es in der Praxis auch ohne die Reporting-Pflicht ginge, die sie im normalen Alltag viel Mühe und Zeit kostet. Nun werden auch die Verantwortlichen in der Politik nicht umhinkommen, diese auf den Prüfstand zu stellen. Es muss die Kosten- und Nutzenfrage neu gestellt werden. Immerhin lässt sich schwer argumentieren, dass es in Krisen eben nicht möglich ist, gefährdete Menschen wirksam zu schützen, während gleichzeitig Milliardenprogramme zur Rettung ganzer Wirtschaftszweige aufgelegt werden. Und nicht zuletzt wird man dem Personalmangel entschiedener als bisher entgegentreten müssen, ohne die Frage einer sach- und leistungsgerechten Bezahlung für die Mitarbeiter auszusparen.

Es wäre blauäugig anzunehmen, dass die Corona-Pandemie die letzte ihrer Art sein wird. Anstatt auf starke Worte und die Hilflosigkeit der Beteiligten zu setzen, muss der Fokus der Politik sich vor allem der Versorgungssicherheit zuwenden. Niemand sollte daran glauben, es werde im Zweifelsfall schon gutgehen – die Realität belehrt uns gerade eines Besseren. Das Problem in die Zukunft zu verlagern, wäre zudem doppelt fahrlässig, da die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bis 2030 um rund 20 Prozent steigen wird. Fast eine Million Menschen über 90 Jahren könnten bis dahin auf eine dauerhafte stationäre Versorgung angewiesen sein. Im Normalfall ist diese Gruppe medizinisch nirgendwo so sicher aufgehoben wie in Pflegeeinrichtungen. Wir sollten dringend dafür sorgen, dass wir das in der Zukunft auch für Krisen wie die gegenwärtige behaupten können.

Dieser Artikel erschien am 16.4. auf LINKEDIN.