PB3C News

Die städtebaulichen Leitbilder dürfen kein Opfer der Zinswende sein

18. Sep 2022

Prof. Dr. Alexander von Erdély FRICS  |  CBRE

Die Grundlagen jeder Immobilien-Projektentwicklung haben sich durch die Zinsschritte der EZB und die Baukostensteigerungen in kurzer Zeit stark verändert. Zum einen müssen Großprojekte mit teilweise mehreren hunderttausend Quadratmetern quasi über Nacht wirtschaftlich neu kalkuliert werden. Zum anderen bleibt ein Restrisiko, ob innerhalb der kommenden Wochen und Monate wichtige Materialien und notwendige Ressourcen überhaupt zur Baustelle gelangen und somit Fristen und Pläne eingehalten werden können.

Bei solchen tagesaktuellen, fundamentalen Herausforderungen wäre es kein Wunder, wenn das „Big Picture“ gedanklich ins Hintertreffen geriete. Dennoch sollten wir vor lauter Ad-hoc-Reaktionen nicht die Energiewende vergessen – und genauso wenig die Sozialstrukturen einer Stadt. Schließlich sind sie jetzt und in Zukunft wichtige Gradmesser für den Erfolg der Immobilienwirtschaft.

Ob unsere Immobilienprojekte das halten, was sie versprechen, zeigt sich besonders in schwierigen Zeiten. Auch hier ist das Beispiel Klimaschutz sehr plastisch: Dass es nicht gut ist, massiv von fossilen Brennstoffen abhängig zu sein, wird aktuell mehr als deutlich. Deshalb wird jetzt auch mit einer gewissen Schonungslosigkeit offengelegt, welche Immobilien tatsächlich nachhaltig sind und wo die „grüne Farbe“ eher vom Marketingteam aufgetragen wurde.

Während diese Folgen sehr konkret sind und zusätzlich durch den Handlungsdruck infolge der Regulierungen verstärkt werden, scheinen die sozialen Strukturen und städtebaulichen Leitbilder abstrakter. Dennoch zeigt sich gerade jetzt, wie wichtig das Erleben von sozialer Integrität und Anerkennung von Diversität sein kann. Wie gut das funktioniert, ist auch eine Frage der (städtebaulichen) Architektur. Deshalb sollten wir das „S“ in ESG ernst nehmen und auch nicht allein auf die Bezahlbarkeit der Mieten reduzieren. Das ist zwar ein wichtiger, aber bei Weitem nicht der einzige Punkt.

Letztlich werden die Erfolge und Misserfolge unserer heutigen Tätigkeiten erst in der Zukunft erlebbar und gemessen. Oder anders gesagt: Unsere Immobilienprojekte von heute entscheiden auch darüber, ob es in zehn und mehr Jahren eine integrative Stadtkultur inklusive 15-Minuten-Stadt gibt oder nicht.

Denn eines ist klar: Im Jahr 2050 wird sich niemand mehr auch nur im Geringsten dafür interessieren, ob die Leitzinsen 2022 bei 0 %, 2 % oder 4 % gelegen haben, als die Immobilie gebaut beziehungsweise modernisiert wurde. Das wird auch in keinem Bildband über „Die Architektur der 2020er-Jahre“ stehen. Was hingegen auch noch 2050 positiv nachhallen wird, sind die Innovationen und Konzepte, die wir heute mit dem Blick auf eine lebenswerte und nachhaltige Stadt der Zukunft angehen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen, zur Energiewende beitragen und die wir eben trotz Zinswende und gestiegener Baukosten angehen und umsetzen.

Dieser Artikel erschien am 9.9. auf HANDELSBLATT INSIDE REAL ESTATE.

Haben Sie Anmerkungen oder Fragen? Dann schreiben Sie an die Leiter unserer Redaktion Jan Döhler und Kai Gutacker.

UNSERE PANEL-EMPFEHLUNGEN FÜR DIE EXPO REAL 2022